Wenn eine depressive Verstimmung chronisch wird

Bonn – Thomas Reichelt ist seit sechseinhalb Jahren traurig. Eigentlich noch länger, gemerkt hat er das aber zuerst nicht so richtig. Im Herbst 2010 gab es einen Tag bei der Arbeit, da konnte er sich nicht konzentrieren, wusste nicht, was als Nächstes kommt.

«Innere Unruhe, Trauer, alles nebulös und schwer greifbar», beschreibt der heute 34-Jährige sein Gefühl damals. Seine Ärztin schrieb ihn krank. «Aber sie konnte nichts mit mir anfangen.» Bis er herausfand, was er hatte, dauerte es: Irgendwann fiel das Wort Dysthymia.

«Bei dem Krankheitsbild handelt es sich um eine chronische depressive Verstimmung», erklärt Prof. Arno Deister, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Wie viele Menschen davon betroffen sind, lässt sich nicht ganz genau sagen. Laut Deister bekommen 15 bis 20 Prozent der Deutschen im Laufe ihres Lebens eine depressive Symptomatik, ein Viertel bis ein Fünftel davon entfalle auf die Dysthymia. Sie beginnt meist im jungen Erwachsenenalter.

Hinter ihr können sogenannte entwicklungshemmende Bedingungen stecken. Darunter verstehen Psychologen zum Beispiel den Verlust eines Elternteils, Suchterkrankungen in der Familie oder Ablehnung, zum Beispiel in der Schule, erklärt Dieter Schoepf. Er leitet das
Kompetenzzentrum für die spezifische Psychotherapie der länger dauernden Depression (CBASP) am Universitätsklinikum Bonn.

Die Symptome gleichen denen einer
Depression, sind aber weniger schwer: Betroffene sind zum Beispiel traurig, antriebslos, nicht so leistungsfähig oder ängstlich, erklärt Deister. Auch sehr viel oder sehr wenig Appetit, Schlafprobleme, Erschöpfung oder Hilflosigkeit sind mögliche Anzeichen, ergänzt Schoepf.

Der Beginn lasse sich aber oft nicht so scharf abgrenzen, sagt Deister. Darin liegt ein weiterer Unterschied zur klassischen Depression: Dabei sagen Patienten oft, dass sie früher anders gewesen seien. Menschen mit Dysthymia hingegen wissen oft gar nicht, dass sie krank sind, weil sie eigentlich schon immer so waren.

Je früher eine Dysthymia erkannt wird, desto besser sind die Heilungschancen. Eine frühzeitig begonnene Therapie schützt außerdem vor körperlichen Beschwerden wie Verspannungen. Eine Dysthymia früh zu erkennen, ist aber wegen des schleichenden Verlaufs und der nicht so stark ausgeprägten Symptome nicht leicht, fügt Deister hinzu.

Eine ebenfalls verhaltenstherapeutisch orientierte und in Deutschland noch recht junge Behandlungsform ist das sogenannte CBASP-Verfahren. Es stellt die persönliche Beziehung des Patienten mit dem Therapeuten in den Vordergrund: Der Betroffene weiß häufig nicht, welche Konsequenzen sein Handeln hat – zum Beispiel wie es auf andere wirkt, wenn er im Gespräch ständig wegschaut. Der Therapeut weist den Patienten immer wieder darauf hin. So lernt der Patient, warum ihn andere manchmal ablehnen. Und er merkt im besten Fall, dass er mit einem Verhalten auch positive Effekte erzielen kann.

Reichelt arbeitet schon lange wieder und hat Mitte 2016 in Abstimmung mit seinem Arzt seine Medikamente abgesetzt. «Nach so vielen Jahren keine Tabletten mehr einnehmen zu müssen, war ein geiles Gefühl!» Leicht war das nicht. Und als geheilt sieht er sich auch nicht. «Es ist mittlerweile okay, es ist momentan nicht akut schlimm, aber es ist immer da.»

Fotocredits: Valéry Kloubert
(dpa/tmn)

(dpa)